Die drei Affen und das Böse

Drei AffenDie drei Affen, die du auf dem Bild siehst, kennt wohl fast jeder. Aber wusstest du, dass dieses Symbol in unserer Kultur heute meist völlig anders gedeutet wird, als es ursprünglich gedacht war? In der Regel wird es heute als Metapher für mangelnde Zivilcourage interpretiert. Es passieren ja viele unschöne Dinge in der Welt, die aktive Lösungsbemühungen erfordern, aber viele Menschen neigen dazu, die Augen und Ohren davor zu verschließen und nicht darüber zu sprechen. Und aktiv etwas dagegen zu unternehmen fällt ihnen erst recht nicht ein (manchmal wird auch ein vierter Affe hinzugefügt, der untätig die Hände in den Schoß legt). Die Metapher wird also heute in der Regel negativ verstanden.

In Japan, dem Ursprungsland des Symbols, ist hingegen von weisen Affen die Rede, was auf eine positive Bedeutung hindeutet. Die Namen der drei Affen sind Mizaru („nichts sehen“), Kikazaru („nichts hören“) und Iwazaru („nichts sagen“). Die Verneinungsform zaru klingt im Japanischen ähnlich wie saru (Affe) – daher wohl die Metapher.

Die ursprüngliche, positive Bedeutung des Symbols geht aller Wahrscheinlichkeit nach auf die konfuzianische Philosophie des alten China zurück, genauer gesagt auf ein Prinzip, das in dem folgenden, Konfuzius zugeschriebenen Zitat zum Ausdruck kommt:

„Was nicht dem Gesetz der Schönheit entspricht, darauf schaue nicht; was nicht dem Gesetz der Schönheit entspricht, darauf höre nicht; was nicht dem Gesetz der Schönheit entspricht, davon rede nicht; was nicht dem Gesetz der Schönheit entspricht, das tue nicht.“

Kungfutse (Konfuzius): Lun Yu, Gespräche, Buch 12

Das Zitat stammt aus einem Gespräch über die Sittlichkeit oder Menschlichkeit. Mit dem „Gesetz der Schönheit“ ist hier ein Maßstab für angemessenes Verhalten gemeint. Im englischen Sprachraum wird die Bedeutung meist zu „See no evil, hear no evil, speak no evil!“ („Sieh nichts Böses, höre nichts Böses, sprich nichts Böses!“) vereinfacht.

Selbst nichts Böses zu sagen oder zu tun, ist eine nachvollziehbare Empfehlung. Aber welchen Sinn und moralischen Vorteil sollte es haben, das Böse vollkommen zu ignorieren, wenn es doch offensichtlich existiert?

Ich wage die Frage in den Raum zu stellen: Existiert es wirklich? Wer legt fest, was „böse“ ist? Wer kann sich anmaßen zu erkennen, welche tieferen Gründe und welche Konsequenzen eine menschliche Handlung ganzheitlich betrachtet hat? Dabei kann es sich um äußere, aber auch psychologische oder spirituelle Gründe und Konsequenzen handeln, die womöglich weit über unser irdisches Begreifen hinausreichen.

Fest steht: Wer „Böses“ tut, tut dies nicht aus freier Entscheidung, sondern weil ihm seine aktuelle psychische Programmierung (fälschlich) suggeriert, dass er keine andere Wahl hat. Entweder handelt er unter einem inneren Zwang gegen seine eigenen Moralvorstellungen, oder aber er hält sein Verhalten sogar für gut und richtig. Wenn er anderen Schmerz zufügt (und das wäre das einzige halbwegs objektivierbare Kriterium für „schlechtes“ Verhalten, das man unabhängig von willkürlich festgelegten moralischen Maßstäben betrachten könnte), dann resultiert das immer daraus, dass er selbst in der Vergangenheit Schmerz erfahren musste und ihn innerlich nach wie vor erlebt. Wer will ihn dafür verurteilen, dass er für seine Verzweiflung kein anderes Ventil findet, als den Schmerz weiterzugeben?

Zudem ist das Ausmaß des Schmerzes eines Menschen, der einer „bösen“ Tat zum Opfer fällt, nicht allein von der Schwere der Tat abhängig, sondern ganz wesentlich auch davon, wie der Betroffene damit umgeht. Ob er sich bei der kleinsten Stichelei zutiefst verletzt fühlt oder sogar seinem vor ihm stehenden Mörder liebevoll vergeben kann, hängt wiederum von seinen erlernten Gedanken- und Gefühlsmustern ab. Wer will also objektiv festlegen, wie „böse“ eine Tat ist?

Ganz klar ist aber auch: Es kann nicht darum gehen, Handlungen einfach zu tolerieren, die großen Schmerz erzeugen. Es geht auch nicht darum, niemanden zur Rechenschaft zu ziehen – im Einzelfall kann es auch durchaus sinnvoll sein, den Rest der Welt vor ihm zu schützen, indem man ihn in Gewahrsam nimmt. Jeder Mensch sollte sicherlich bestrebt sein, zu einer Verringerung des Leidens in der Welt beizutragen. Aber dazu ist es meines Erachtens weder notwendig noch hilfreich, Taten oder gar Menschen in „gut“ und „böse“ einzuteilen. Vielmehr sollte die Frage aus meiner Sicht immer sein, wie wir – ganzheitlich und nicht nur kurzfristig betrachtet – möglichst viel Liebe in die Welt bringen können. Wenn wir das zum alleinigen Maßstab beim Umgang mit problematischem Verhalten machen, umfasst unsere Liebe sowohl die Menschen, die Leid in die Welt bringen, als auch diejenigen, die es infolgedessen erfahren. Mindestens im Kleinen gehört ohnehin jeder Mensch zu beiden Gruppen.

Mein Weltbild, das inzwischen von vielen Menschen geteilt wird, reicht hier sogar noch weiter. Letztlich erschafft demnach jeder Mensch seine eigene Realität aufgrund seiner inneren Energiestruktur. Diese ist sehr komplex und ihre Veränderung erfordert ein hohes Maß an Bewusstheit. Sie bestimmt zum einen unsere subjektive Wahrnehmung der Wirklichkeit und sorgt zum anderen dafür, dass wir uns innerhalb des „objektiven“ (das heißt: kollektiven) Realitätsrahmens zu den zu unserer Energiestruktur passenden Orten, Menschen und Situationen begeben. Das gilt für „Täter“ und „Opfer“ gleichermaßen.

Hier schreien erfahrungsgemäß viele Menschen auf und werfen Vertretern dieses Weltbildes vor, die Schuld den Unschuldigen zuzuschieben. Tatsächlich aber hat das moralische Konstrukt der „Schuld“ in diesem Weltbild ebenso wenig Platz wie die dazu äquivalente Idee des „Bösen“. Beides enthält keine tiefere Wahrheit. Das sogenannte „Böse“ entsteht – sowohl bei „Tätern“ wie auch bei „Opfern“ – aus einer Kombination von Angst und Unwissenheit. Dabei kann es zu Teufelskreisen kommen, die sich nur sehr schwer durchschauen und durchbrechen lassen. Also sollten wir niemanden dafür verurteilen, sondern stattdessen versuchen, zu verstehen, zu lernen, zu lehren (nicht aber zu belehren), Vorbild zu sein und – soweit möglich – zu lieben.

Wir könnten die Botschaft der weisen Affen in diesem Sinne wie folgt umformulieren:

Sieh und erkenne, dass nichts Böses existiert. Höre auf niemanden, der dir das Gegenteil erzählt. Verurteile niemanden. Greife niemanden als Feind an.

Böses

Mit dieser Philosophie tun wir sowohl der Welt als auch uns selbst einen großen Gefallen. Denn wir durchbrechen damit den Kreislauf, der das sogenannte „Böse“ überhaupt erst aufrechterhält. Denn wenn „böse“ Taten auf emotionaler Ebene verurteilt werden und Menschen sich das Recht aneignen, auf die Bösen böse zu sein, nährt dies nur die Energie des Schmerzes, aus der immer wieder neue „böse“ Taten erwachsen. Nur Liebe kann uns aus diesem Kreislauf retten, und auch das gilt wiederum für alle Beteiligten – „Täter“, „Opfer“ und „Richter“.

Dies gilt im Übrigen auch im weiteren Sinne für den Umgang mit allem „Negativen“ in der Welt. Wir sollten es zwar nicht verdrängen, aber solange wir darauf mit negativen Emotionen reagieren, sollte uns das als deutliches Signal dafür dienen, dass die aktuelle Baustelle zunächst in uns selbst zu suchen ist und wir uns erst dann um die „äußeren“ Probleme kümmern sollten, wenn wir uns ihnen mit einem positiven, lösungsorientierten, auf Liebe gegründeten Fokus nähern können. Dieses Thema ist sicherlich noch einmal einen eigenen Blog-Beitrag wert.

Wir dürfen die drei (oder vier) Affen also einerseits durchaus als Ermahnung verstehen, unsere Augen und Ohren nicht vor dem Leid der Welt zu verschließen und nicht zu schweigen und tatenlos zu bleiben, wo wir etwas Gutes bewirken können. Vor allem aber sollten wir sie als Erinnerung daran verstehen, dass in Wirklichkeit nichts außerhalb der allumfassenden Liebe existiert, aus der alles entspringt. Nur wenn wir im Bewusstsein dieser Wahrheit denken, sprechen, zuhören und handeln, können wir den Ausdruck dieser Liebe in unserer Welt mehren.

Über Jörg Starkmuth

Autor, Übersetzer und Verleger von Texten, die den Rahmen des Üblichen sprengen – mehr über mich

3 Kommentare

  1. [Ich bin] ein Teil von jener Kraft,
    Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. …
    Ich bin der Geist, der stets verneint!
    Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
    Ist wert, daß es zugrunde geht;
    Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.
    So ist denn alles, was ihr Sünde,
    Zerstörung, kurz das Böse nennt,
    Mein eigentliches Element.

    Lieber Herr Starkmuth,

    vielleicht ist es ein Problem überhaupt, wenn wir etwas „wollen“ und es nicht einfach nur tun.
    Und selbst ein Tun das Gutes will, kann Böses bewirken, denn solange wir etwas wollen, drehen wir uns Kreise.

    „Es zu lassen, und es zu tun, und sehen was daraus wird: Was mehr können wir tun?“

    Ihre Webseite und deren Inhalte sind „wunderbar“ und ein wertvoller Beitrag. Meine Worte wollen nichts sein, als ein paar Gedanken und schon gar keine „Belehrungen“.

    Gute Wünsche für Sie und Ihre Arbeit,
    Sam

    • Hallo Sam, vielen Dank für diesen hochgradig passenden Kommentar. Ich liebe übrigens die Figur des Mephisto und generell die Vielschichtigkeit teufelsähnlicher Figuren. „Luzifer“, der Name des „gefallenen“ Engels, bedeutet ja eigentlich „Lichtbringer“ …

  2. Hallo lieber Jörg.
    das ist so genial beschrieben das ich es gerne bei Facebook teile.?hab einen schönen Sonntag!
    LG Sylvia

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