Der unmögliche Hummelflug und andere Mythen

Und sie fliegt doch!In den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts kursierte unter den Studenten der Aerodynamik an der Universität Göttingen ein Witz. Demnach soll in einer Gaststätte ein Biologe einen Aerodynamiker gefragt haben, warum eine Hummel fliegen könne. Der Aerodynamiker soll daraufhin eine schnelle Berechnung auf eine Serviette gekritzelt und sinngemäß geantwortet haben: „Die Hummel hat 0,7 cm² Flügelfläche und wiegt 1,2 Gramm. Nach den Gesetzen der Aerodynamik kann sie damit unmöglich fliegen. Die Hummel kennt aber die Gesetze der Aerodynamik nicht, deshalb fliegt sie trotzdem.“  Woher diese Geschichte ursprünglich stammte, ist umstritten, aber sie war lustig genug, um sich in Windeseile zu verbreiten

Vermutlich hätte der besagte Aerodynamiker – oder derjenige, der sich die Geschichte ausgedacht hat – sich nicht träumen lassen, dass diese Aussage auch fast 100 Jahre später noch herumgeistern und sogar in Büchern stehen würde. Freilich weniger in Büchern über Aerodynamik, sondern vor allem in solchen, in denen es um persönliche Weiterentwicklung geht. Das Ganze dient dort als Beispiel dafür, dass scheinbares Wissen, bei dem es sich aber in Wirklichkeit nur um Glaubenskonzepte handelt, unsere Entwicklung blockieren kann. Da die Hummel aber das Glück hatte, von solchen hemmenden Glaubenskonzepten unbeleckt zu bleiben, konnte sie fröhlich das Fliegen lernen, während sie anderenfalls vielleicht angesichts der erdrückenden wissenschaftlichen „Fakten“ vorzeitig resigniert hätte und am Boden geblieben wäre.

Da ich in meinem zweittiefsten Inneren ein Naturwissenschaftler und außerdem ein notorischer Besserwisser bin, muss ich natürlich zunächst die wissenschaftliche Seite des Ganzen aufklären. Selbstverständlich ist es weder ein Wunder noch ein wissenschaftliches Rätsel, dass Hummeln fliegen können. Der Knackpunkt liegt in der geringen Größe der Hummel. Würde man sie maßstäblich auf die Größe eines Flugzeugs vergrößern, wäre sie tatsächlich nicht in der Lage abzuheben. Die Berechnungsformeln für Flugzeuge, auf denen die oben genannte Aussage des Aerodynamikers basiert, sind aber auf so kleine Objekte gar nicht anwendbar. Denn die den Flugkörper umgebenden Luftmoleküle und auch die Bindungskräfte zwischen ihnen sind relativ zur Größe und Masse der Hummel viel größer als für ein Flugzeug. Dadurch ist, vereinfacht gesagt, die Luft für eine Hummel viel „dicker“ und „zäher“ als für ein Flugzeug, nähert sich also schon fast den Eigenschaften einer Flüssigkeit an. (In der Strömungslehre würde man sagen, dass die Reynolds-Zahl – das Verhältnis zwischen Trägheits- und Zähigkeitskräften – für die Hummel wesentlich kleiner ist als für ein Flugzeug.)

Im Wesentlichen ist das auch der Grund dafür, dass du zum Beispiel eine eingefangene Spinne bedenkenlos vom Balkon werfen kannst. Sie wird unten munter weiterkrabbeln, obwohl ihre Absturzhöhe mehrere Hundert Mal größer als ihre Körpergröße ist. Wenn ein Mensch dagegen relativ zu seiner Körpergröße aus entsprechender Höhe stürzt (etwa indem er vom Eiffelturm springt), sind seine Überlebenschancen eher mäßig. Tatsächlich kann er schon bei nur zwei Metern Fallhöhe sterben, wenn er ungünstig aufprallt. Die Spinne dagegen überlebt nicht nur dank ihres harten Exoskeletts, sondern vor allem, weil sie eben nicht durch dünne Luft fällt, sondern durch eine relativ zähe Masse sinkt.

Zugegeben: Die letzten Details der Erklärung des Hummelflugs wurden tatsächlich erst 1996 gefunden, als Charles Ellington an der Universität Cambridge mittels einer Hochgeschwindigkeitskamera herausfand, dass Hummeln ihre Flügel bis zu 200 Mal pro Sekunde im Kreis bewegen und mittels der so entstehenden Luftwirbel den benötigten Auftrieb erzeugen. In der Theorie wurde so etwas aber schon zu der Zeit vermutet, als der oben erwähnte Witz aufkam.

Dieses Beispiel zeigt, wie bereitwillig Menschen eine schöne Geschichte unhinterfragt übernehmen, wenn sie ihrem Weltbild oder ihrer „Message“ zupass kommt. Zwar wird wohl niemand glauben, dass eine Hummel tatsächlich den Naturgesetzen trotzt, aber von denen, die das Ganze zur Untermauerung ihrer Weltsicht verwenden, hat sich nach meinem Eindruck niemand die Mühe gemacht, die wahren Hintergründe zu recherchieren (obwohl dazu schon ein Blick in die Wikipedia genügt). Die Geschichte ist einfach zu schön, um sie sich durch Fakten kaputtmachen zu lassen. Auch wenn wohl jeder die Geschichte in erster Linie als Metapher versteht, wird mancher vermutlich ungeprüft annehmen, die Wissenschaft sei wirklich nicht in der Lage, dieses „Wunder“ aufzuklären, was die allgemeine Skepsis vieler „alternativ Denkender“ gegenüber der Wissenschaft widerspiegelt und untermauert. Freilich kann die Wissenschaft in der Tat viele Rätsel der Natur noch nicht erklären, und an einigen wird sie wohl noch viele Generationen lang scheitern – je nachdem, wie schnell oder langsam der überfällige Paradigmenwechsel vom Materialismus hin zu einer bewusstseinszentrierten Wissenschaft voranschreitet. Das ist aber aus meiner Sicht kein Grund, sie dort zu ignorieren, wo sie bereits erfolgreich war.

Japanmakaken beim Baden in einer warmen Quelle

Ein anderes Beispiel dieser Art – allerdings diesmal ohne metaphorisch-humorvollen Anstrich – ist die Legende vom hundertsten Affen. Demnach sollen Wissenschaftler auf einer japanischen Insel beobachtet haben, dass sich bei den dort lebenden Japanmakaken eine neu erlernte Fähigkeit (nämlich das Waschen verschmutzter Süßkartoffeln vor dem Verzehr) nicht nur durch Beobachtung und Nachahmung in der Affenpopulation verbreitete, sondern ab einer gewissen „kritischen Masse“ an Individuen (nämlich etwa hundert) plötzlich allen Affen bekannt war, und zwar sogar denen auf benachbarten Inseln. Dies wird in Büchern des „neuen Denkens“ gerne als wissenschaftlicher Beweis für die Existenz eines kollektiven Bewusstseins oder Informationsfeldes angeführt. Auch hier jedoch führt eine Überprüfung der historischen Fakten zur Ernüchterung: Zwar wurden die Affen in den 50er Jahren tatsächlich von japanischen Forschern beobachtet und erlernten auch das Waschen der Nahrung, aber für den behaupteten plötzlichen Übergang des Wissens auf die gesamte Population findet sich in den Forschungsberichten keinerlei Hinweis. Dieser wurde von einem Autor, der das Material nicht selbst studiert hatte, in die ihm zugetragenen Informationen hineininterpretiert und später von einem weiteren Autor übernommen und metaphysisch gedeutet. Schon war der Mythos geboren und ist seitdem nicht totzukriegen.

Wer mich ein wenig kennt, weiß, dass ich sehr wohl von der Existenz kollektiver Bewusstseinsfelder überzeugt bin und auch die Sichtweise vertrete, die so gern mit der Metapher der Hummel illustriert wird, die sich nicht durch beengende Glaubenssätze beirren lässt. Warum also poche ich trotzdem so sehr darauf, solche schönen Beispiele für diese Sichtweisen gründlich zu hinterfragen, statt sie einfach stehen zu lassen? Tun sie nicht dennoch ihre Wirkung?

Die Antwort darauf geht in eine ähnliche Richtung wie der Tenor meines vorigen Beitrags zum Thema Placebo: Eine positive Wirkung einer überzeugenden (wenn auch falschen) Geschichte im Einzelfall wiegt aus meiner Sicht nicht den Schaden auf, den das unkritische Verbreiten solcher modernen Mythen dadurch anrichtet, dass er das eigentliche Ziel eben dieser Verbreitung torpediert, nämlich möglichst vielen Menschen ein neues, erweitertes Weltbild nahezubringen. Denn genau das haben die meisten Quellen, in denen diese Mythen als „Belege“ angeführt werden, zum Ziel. Wenn man aber die „richtige“ Botschaft mit falschen „Fakten“ begründet, macht man sich in den Augen derer unglaubwürdig, die neue „Wahrheiten“ nicht einfach kritiklos übernehmen, sondern sie zu Recht hinterfragen und überprüfen. Doch gerade die kritischen Denker zu überzeugen, wäre besonders wichtig, denn diese sind am ehesten dafür prädestiniert, dem erweiterten Weltbild die Tür zum Mainstream ein Stück weiter zu öffnen. Das negative Image all dessen, was Außenstehende gerne pauschal als „New Age“, „Esoterik“ oder „Pseudowissenschaft“ zusammenfassen, ist nicht zuletzt auf solche unsauberen Argumentationen zurückzuführen. Das ist schade, denn es führt zu mehr Spaltung statt der erwünschten Synergie.

Ein Paradebeispiel hierfür ist der sogenannte „Quantenmystizismus“, der versucht, die Einflüsse des Bewusstseins auf die materielle Realität (von deren Existenz ich ebenfalls überzeugt bin und über die ich sogar ein Buch geschrieben habe) mit der Quantenmechanik zu begründen, obwohl diese in ihrer bisherigen Form tatsächlich keinerlei Beleg dafür liefert. Missverständnisse bei der Interpretation sowie einige philosophische Überlegungen früher Quantenphysiker haben genügt, um den Mythos „Der Beobachter macht aus der Welle ein Teilchen“ in die Welt zu setzen, und auch er scheint nicht mehr auszurotten zu sein. Zu diesem Thema habe ich schon vor längerer Zeit einen ausführlichen Artikel geschrieben – übrigens unter anderem deshalb, weil ich das Ganze vor 15 Jahren selbst noch nicht ganz durchschaut hatte und deshalb mein Buch später in diesem Bereich überarbeiten musste.

Thomas Edison als Jugendlicher

In einer weiteren populären Geschichte, die ich hier erwähnen möchte, geht es um die Kindheit des genialen Erfinders Thomas Edison, der unter anderem die erste brauchbare Glühbirne entwickelte. Demnach wurde er von seiner Schule verwiesen und ihm wurde ein Brief für seine Mutter mitgegeben. Diese weinte beim Lesen des Briefes und sagte ihrem Sohn, die Lehrer hätten ihn als Genie bezeichnet und sie solle ihn selbst unterrichten, da die Schule ihm keine angemessene Lernumgebung bieten könne. Lange nach dem Tod der Mutter soll Edison dann den Brief gefunden und festgestellt haben, dass die Lehrer ihn in Wirklichkeit als geistig behindert eingestuft hatten und ihn deshalb nicht an ihrer Schule haben wollten. Nur durch die Notlüge der Mutter habe er das Selbstvertrauen gehabt, ein genialer Erfinder zu werden.

Hier geht es um ein sehr reales und wichtiges Prinzip, das auch durch Studien nachgewiesen wurde: Die geistige Leistungsfähigkeit eines Menschen – insbesondere eines Kindes – hängt tatsächlich stark davon ab, wie stark andere an seine Kompetenz glauben bzw. ihm diesen Eindruck vermitteln. Sagt man einem Kind, es sei unfähig, wird es unbewusst seine eigene Intelligenz blockieren – und umgekehrt. Es ist das Prinzip der selbst erfüllenden Prophezeiung, das sich quer durch die gesamte Psychologie zieht.

Dennoch ist leider auch die Geschichte über Edison größtenteils erfunden. Historisch nachweisbar ist nur, dass er tatsächlich nach wenigen Monaten die Schule verlassen musste, weil man ihn als „eingeschränkt“ eingestuft hatte (möglicherweise weil er an Schwerhörigkeit litt), und danach von seiner Mutter – einer ausgebildeten Lehrerin – unterrichtet wurde. Man kann wohl davon ausgehen, dass seine Mutter tatsächlich einen großen Einfluss darauf hatte, ihm das notwendige Selbstvertrauen für seinen beispiellosen Erfolgsweg mitzugeben. Der anrührende Teil mit dem Brief und der Notlüge ist aber wohl dennoch erfunden, wird aber gerne ungeprüft verbreitet, weil die Geschichte so eindrucksvoll das oben erwähnte Prinzip illustriert.

Die hier erwähnten Falschmeldungen sind insofern „harmlos“, als die damit untermauerten Erkenntnisse weder ganz falsch noch destruktiv sind, sondern im Gegenteil durchaus positive Impulse geben können. Das Problem ist hier erst einmal „nur“ der erwähnte Glaubwürdigkeitsschaden gegenüber Skeptikern. Man könnte freilich versucht sein zu sagen, dass Skeptiker ohnehin die Mühe nicht wert seien, sie zu bekehren, und solange die Botschaft die richtige sei, käme jedes Argument gerade recht, um die dafür offene Zielgruppe zu erreichen, auch wenn es vielleicht nicht ganz sauber recherchiert ist. Dabei wird aber vergessen, dass „richtig“ und „falsch“ sehr subjektive Begriffe sind. Ein Donald Trump würde vermutlich ganz ähnliche Argumente anbringen, um seine „richtige“ Botschaft und damit seine politische Macht mithilfe von „Fake News“ zu zementieren. Unter Menschen, die die ihnen präsentierten „Wahrheiten“ nicht kritisch überprüfen, kann ganz schnell ein höchst wirksames, aber auf falschen Annahmen basierendes Glaubenssystem etabliert werden.

Kurioserweise ist dafür eine Gruppe von Menschen besonders anfällig, denen genau dies eigentlich bewusst ist. Sie gehen davon aus, von den Mächtigen dieser Welt hinten und vorne belogen zu werden, und sehen in fast allem einen Beweis dafür, wie das Volk durch gezielte Desinformation dumm und brav gehalten wird. Wie wir am Beispiel Trump und vielen anderen (und nicht zuletzt an unserer eigenen Geschichte in Deutschland) sehen, ist diese Gefahr durchaus real. Allerdings habe ich bei vielen dieser sehr gesellschaftskritischen Menschen den starken Eindruck, dass sie in genau die Falle getappt sind, vor der sie selbst warnen, nur dass ihr Weltbild nicht auf staatlicher Propaganda beruht, sondern auf einer subkulturellen Gegenpropaganda, die vor allem in den sozialen Netzen kursiert und der ebenso jedes passende Argument recht ist, um ihre Sichtweise zu untermauern. Auch hier sind die Argumente oft schlecht recherchiert, und Gegenargumente werden ungeprüft diskreditiert, ignoriert oder gar nicht erst wahrgenommen. Eigentlich kann in dieser Welt fast gar nichts Nennenswertes mehr passieren, ohne dass sich sofort mindestens eine Verschwörungstheorie darum rankt. Auch hier zeigt sich das Prinzip der selbst erfüllenden Prophezeiung: Durch selektive Wahrnehmung (und unterstützt durch das ebenso selektive Filterblasen-Prinzip der sozialen Netze) findet jeder bevorzugt die Argumente, die er zur Untermauerung seiner Weltsicht benötigt.

Letztlich fallen diese Menschen auf dasselbe Prinzip herein wie diejenigen, die arglos den unmöglichen Hummelflug und andere schöne Geschichten verbreiten: Sie greifen begierig nach Argumenten, die sich richtig anfühlen und ihnen dadurch das gute Gefühl geben, in ihrer Weltsicht bestätigt zu werden. Denn auch im Fall einer negativen Weltsicht fühlt sich das Gefühl, „Bescheid zu wissen“ und damit nicht der „treudummen Masse“ anzugehören, immer noch besser an als sich als vollkommen hilfloses Opfer der Mächtigen zu fühlen. So kann man zumindest seine Wut zum Ausdruck bringen und mit Argumenten untermauern – und so vielleicht ein paar von den dummen Schafen „aufwecken“.

Ich will damit niemanden provozieren. Ebenso wie die allermeisten Menschen habe auch ich zu vielen kontroversen Themen zu wenig Hintergrundinformationen, um wirklich beurteilen zu können, was wahr oder falsch ist. Ich möchte nur jedem empfehlen, sehr genau nachzuforschen, bevor man sich durch scheinbar überzeugende Argumente eine neue „Wahrheit“ vermitteln lässt, selbst wenn es eine schöne, wünschenswerte Wahrheit ist – oder auch eine, die zwar unschön ist, die man aber für wichtig genug hält, um andere darüber belehren zu müssen. Wer andere wirklich erreichen möchte, tut sehr gut daran, seine Argumente so fundiert wir möglich zu begründen und so sachlich wie möglich vorzubringen. Wer dazu nicht in der Lage ist oder die Energie nicht aufbringt, sollte sich aus meiner Sicht lieber zurückhalten, denn er wird so keine positive Veränderung in der Welt bewirken, sondern bestenfalls eine neue Glaubensgemeinschaft ins Leben rufen, die die Spaltung eher vertieft.

Generell rate ich dazu, sich nur mit Themen zu befassen, die entweder ohnehin positive Gefühle auslösen oder bei denen man eine (wirklich) positive Motivation und die nötige Sachkompetenz hat, um wirklich etwas in eine gute Richtung bewegen zu können (und nicht etwa nur das Gefühl, man müsse das Unrecht in die Welt schreien, damit es auch jeder mitbekommt). Ohne wirkliche Kompetenz richtet man leicht unnötigen Schaden an. Außerdem – und hier kann die metaphorische(!) Hummel dann doch unsere Lehrmeisterin sein – lernt man leichter fliegen, wenn man sich nicht mit scheinbar überzeugenden, aber in Wahrheit doch unvollständigen oder sogar falschen „Fakten“ belastet. Entweder forscht man genauer nach (und erfährt, warum man eben doch fliegen kann) oder man lässt es und probiert es einfach aus.

Über Jörg Starkmuth

Autor, Übersetzer und Verleger von Texten, die den Rahmen des Üblichen sprengen – mehr über mich

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