Wie du auf dem Foto sehen kannst, ist infolge des hier im Rheinland sehr ungewöhnlichen Dauerfrostes der letzten Tage eine Keramik-Vase auf unserem Balkon sozusagen von ihrer eigenen Kristallseele gesprengt worden. Die verbleibende Eis-Skulptur bildet die ehemalige Form der Vase nach – wie eine Erinnerung. Darin erkenne ich eine schöne Metapher für einen Prozess, den ich selbst und interessanterweise auch mehrere andere Menschen aus meinem engeren Umfeld gerade zeitgleich erleben.
Viele unserer belastenden mentalen und emotionalen Muster, die unsere Persönlichkeit mitprägen, wirken auf uns wie ein Panzer oder eine harte Schale, die unsere innere Beweglichkeit einschränkt und uns an der Entfaltung dessen hindert, was wir gerne wären und in unserem Innersten auch sind – oft ohne dass uns das überhaupt bewusst ist. Denn meistens tragen wir diesen Panzer schon seit unserer Kindheit mit uns herum und empfinden ihn als normal. Wir denken „So bin ich halt“ oder denken sogar überhaupt nichts, weil wir gar nicht auf die Idee kommen, man könnte auch anders sein. Oder aber wir projizieren die Ursache des Panzers nach draußen und fühlen uns durch andere Menschen beispielsweise in unserer Freiheit eingeschränkt – während wir es in Wirklichkeit selbst tun.
Wenn wir uns dann aber infolge einer persönlichen Krise und des darauffolgenden – ggf. auch therapeutischen – Erkenntnisprozesses dieses Panzers bewusst werden, kann das zunächst einmal sehr unangenehm sein. Denn zum ersten Mal wird uns klar, wie gefangen wir in uns selbst sind – oder in dem, was wir für uns selbst halten. Es entsteht der Wunsch, den Panzer zu sprengen. Das kann zu einem verzweifelten inneren Kampf führen und manchmal auch zu einem Gefühl der totalen Machtlosigkeit, weil uns der Panzer übermächtig erscheint. Dazu trägt auch bei, dass wir oft keinerlei konkrete Vorstellung davon haben, wie es sich ohne den Panzer anfühlen würde. Das Ziel erscheint uns dann bestenfalls schwammig, oft auch unerreichbar und schlimmstenfalls sogar beängstigend. Diese Angst vor der Veränderung und dem Unbekannten habe ich auch im Beitrag Die Kunst der Musterunterbrechung beschrieben.
Und doch: Ist dieser Prozess einmal angestoßen, gibt es in aller Regel kein Zurück mehr. Oft führt die gefühlte Machtlosigkeit zu Wut. Der eingesperrte Teil in uns will seine Freiheit und kämpft von innen immer stärker gegen den Panzer an. Er macht sich immer lautstärker bemerkbar, wird uns immer bewusster. Und langsam kristallisiert in unserem Inneren eine neue Vorstellung davon, wer wir sein möchten – wie das Eis in der Vase. Sie nimmt Form an. Sie bekommt immer mehr Aufmerksamkeit und dadurch Energie. Dadurch wächst sie und erhöht den Druck auf den Panzer. Aber die alten Sicherheitsmuster, die jetzt aufgrund der drohenden Veränderung im Alarmzustand sind, verstärken zugleich den Panzer. Diese Phase empfinden wir deshalb oft als extrem anstrengend. Sie kann uns alle Kraft rauben – und zugleich beginnen wir zu ahnen, wie viel Kraft uns dieser innere Kampf auch vorher schon geraubt hat, denn unterschwellig hat er fast unser ganzes Leben lang getobt.
Irgendwann aber endet der Kampf – entweder weil wir keine Kraft mehr haben (oft manifestiert der Kampf auch körperliche Erkrankungen) oder weil wir einsehen, dass er uns dem Ziel niemals wirklich näherbringt. Denn solange wir gegen etwas kämpfen, fokussieren wir uns auf dieses Etwas und geben ihm damit immer wieder neue Energie. Wenn der Kampf aufhört und wir den Panzer mit ruhigem Gemüt als neutrale Tatsache betrachten können, ihn vielleicht sogar wertschätzen können für den Schutz, den er unserer verletzten Kinderseele gegeben hat, dann setzt die tatsächliche Veränderung ein. Wir erkennen, dass wir den Panzer nicht mehr brauchen und uns etwas anderes wünschen. Dadurch wandert der Fokus von ihm weg und hin zu dem, was im Inneren des Panzers die ganze Zeit auf seine Befreiung gewartet hat. Während die Kraft des Panzers nachlässt, wächst in unserem Inneren weiterhin die Vorstellung davon, wer wir sein möchten, dehnt sich weiter aus, will endlich den Raum einnehmen, der ihr zusteht. Und schließlich sprengt sie den Panzer – was übrigens manchmal eine sehr heftige, emotionale Erfahrung sein kann. Dann ist es wichtig, diese Gefühle als gesunde Begleiterscheinung zu erkennen und sie zuzulassen.
Darauf folgt oft eine Phase, in der wir uns sehr seltsam fühlen. Ein bis dahin als elementar empfundener Teil unserer Persönlichkeit ist verschwunden. Das kann sogar zu einer regelrechten Identitätskrise führen: „Wer bin ich jetzt? Was will ich? Was gibt mir jetzt Halt?“ Es kann sich anfühlen wie ein Loch in uns, das erst noch mit etwas Neuem gefüllt werden muss. Und oftmals trauen wir der Veränderung auch nicht über den Weg. Denn die alten Muster verschwinden nicht auf einen Schlag. Wie ein Echo oder eine Erinnerung sind sie irgendwie noch da, aber nicht mehr richtig greifbar. Das Eis bildet immer noch die Form der Vase nach – heller, zarter und transparenter, aber auch irgendwie schutzlos ohne die vertraute Hülle. Oft fühlen wir uns zerbrechlich in dieser Phase. Was soll jetzt aus uns werden?
Aber wir zerbrechen nicht. Dem Eis ist ein anderer Weg bestimmt. Wenn die Frühlingssonne kommt, verliert es die alte Form. Es wird klarer, beweglicher, bahnt sich vollkommen neue Wege, die wir uns in der vorherigen, noch starren Form nicht einmal vorstellen konnten. Es beginnt zu fließen oder sich sogar in den Himmel zu erheben. Dieser scheinbar vollkommene Verlust der alten Form und Identität kann erneut beängstigend sein. Aber zum Glück endet hier die Metapher, denn wir lösen uns nicht vollständig auf. Wir behalten immer – zumindest solange wir auf diesem Planeten leben – unsere innerste Identität, mit der wir in diese Welt gekommen sind – unsere Seele, die sich in dieser Welt auf einzigartige Weise entfalten möchte. Mit jedem Panzer, den wir sprengen oder – mit zunehmender Gelassenheit – auf sanftere Weise abtragen, kommen wir unserem wahren Wesen ein Stück näher. Zugleich prägen uns all diese Prozesse auf einzigartige Weise und bereichern unsere Seele. Sie sind kein bloßes Hindernis auf dem Weg zu uns selbst, sondern ein elementarer Bestandteil dieses Weges. Unsere persönliche, oft schmerzhafte Geschichte nimmt uns zunächst gefangen, macht uns aber irgendwann genau zu denen, die wir schon immer sein wollten. Und das ist – nach meinem derzeitigen, bescheidenen Verständnis – das wesentliche Ziel unserer irdischen Inkarnation.
Wie wundervoll und toll geschrieben! Danke. Du bringst es auf den Punkt… ?
Das ist ist ein wundervoller Text. Danke, lieber Jörg. ?
Vielen Dank für deine wunderbare Metapher.
Ich habe diesen Durchbruch letztes Jahr erlebt. Ausgelöst durch einen Arthroseschub ging ich durch eine Panikattacke. Obwohl mein therapeutischer Anteil mir immer wieder zurief: „Atme!“, war der andere Anteil zutiefst überzeugt, ich (=er) müsse sterben. Und ich schrie und weinte vor Angst. Doch am Ende war „ich“ tot. Es dauerte bis ich mich wieder normal, whatever that means, fühlte. Meine alte Welt, mein Groll und was sonst noch war besonders bezogen auf meine Kindheit, ist seitdem wie hinter einer Einwegscheibe.
Und das Wachsen und Ausdehnen hat begonnen. Keine Ahnung, wohin die Reise, das Lebensabenteuer noch gehen wird. LG. Sahnnah
Liebe Shannah, danke, dass du dein Erleben mit uns teilst. Ja, es kann heftig sein, wie eine Geburt. Zum Glück ist es nicht immer so, vor allem mit zunehmender Erfahrung wird es leichter – zumindest leichter auszuhalten, weil wir verstehen, dass es eine notwendige und heilsame Transformation ist. Auch ich habe noch vor wenigen Tagen hysterisch geschrien, als hätte ich schlimmste körperliche Schmerzen … Aber ich wusste zugleich, dass da etwas Wichtiges und Gutes passiert.
Sehr spannend der Vergleich mit Geburt.. Ich war voriges Jahr ganze neun Monate mit einer Angststörung beschäftigt und fühle mich jetzt wie neu geboren und lerne jetzt zu meinem neuen/alten kindlichen Ich Vertrauen zu finden. Ich war da wohl auch mit mir selbst schwanger und hab alte Ängste und Blockaden loslassen dürfen. Danke Jörg für diesen wundervollen Vergleich und den tollen Blockbeitrag. ???
Oh jaaa! So richtig und so schön geschrieben – es scheint allgemeine Platz-Zeit zu sein 😀 <3