Der Baum des Bewusstseins

BaumImmer wieder wird mir die Frage gestellt, wie es denn sein kann, dass – laut dem inzwischen sehr verbreiteten Weltbild, das auch ich vertrete – jeder Mensch kraft seines Bewusstseins seine eigene Realität erschafft, da wir doch in einer gemeinsamen Realität leben, die ein einzelner Mensch offensichtlich nicht „mal eben so“ verändern kann. Schnell stellt sich dann auch die Frage, ob bzw. inwieweit man mit dieser schöpferischen Macht das Leben eines anderen Menschen beeinflussen kann. Müsste es nicht ständig zu Widersprüchen zwischen den selbst geschaffenen Realitäten der Beteiligten kommen?

Dieses Verständnisproblem beruht auf der unzutreffenden Vorstellung, dass wir voneinander getrennte Wesen seien. Tatsächlich sind wir alle auf der Bewusstseinsebene auf eine komplexe Weise miteinander verbunden. Ich erkläre das gerne mit einem Gleichnis, das übrigens auch meinem Buch Das Blatt, das vom Himmel erzählte zugrunde liegt:

Stell dir vor, du bist ein Blatt an einem Baum. Du empfindest dich als ein weitgehend eigenständiges Wesen, ein Individuum. Die anderen Blätter nimmst du als separat von dir existierende Individuen wahr. Die Verbindung zwischen dir und deinem Zweig (dein Blattstiel) ist so dünn, dass du seine elementare Bedeutung für deine Existenz nicht erkennst. In deiner Wahrnehmung stellt er nur eine Einschränkung deiner Bewegungsfreiheit dar, eine Art Naturgesetz, dem du leider ausgeliefert bist.

Dein Zweig verbindet dich mit deinen Nachbarblättern. Zusammen bildet ihr eine Einheit, eine Art Gruppenwesen, was den Blättern aber aufgrund ihrer Trennungsillusion nicht (oder kaum) bewusst ist. Der Zweig als Gruppenwesen existiert sozusagen eine Ebene höher in der Bewusstseinshierarchie. Möglicherweise empfindet auch er sich als eine Art eigenständiges Wesen, aber nicht so stark wie die einzelnen Blätter.

Der Zweig wiederum wächst mit anderen Zweigen an einem Ast des Baumes. Dies ist die nächsthöhere Ebene. Jeder Ast „betreut“ seine eigene Gruppe von Zweigen und kann wiederum als eine Art Über-Gruppenwesen interpretiert werden. Vielleicht gibt es auch noch weitere Ebenen, wenn die Äste sich zu dickeren Ästen vereinigen usw.

Blatt und BaumDie höchste Ebene dieser Baum-Hierarchie bildet der Baum selbst, der in seinem Stamm alle Äste vereinigt. Er ist sozusagen das Kollektivbewusstsein oder die „Überseele“ aller seiner Teile. Auch er ist ein Wesen, allerdings ein weitaus komplexeres als ein Ast, Zweig oder Blatt. Dennoch sind sich alle diese Ebenen untereinander ähnlich. Ein Ast sieht wie ein kleiner Baum aus. Und selbst wenn du dir ein Blatt anschaust, findest du in seinen Blattadern wiederum eine baumähnliche Struktur.

Eine solche Struktur, die sich in sich selbst im Großen wie im Kleinen wiederholt und immer weiter verzweigt, nennt man ein Fraktal. Mathematisch kann man Fraktale mittels erstaunlich einfacher Formeln berechnen und vom Computer grafisch darstellen lassen. Solche mathematischen Fraktale sind sogar endlos, das heißt, du kannst sie beliebig stark vergrößern und findest immer neue Verzweigungen und ähnliche (aber nicht identische) Strukturen. Einige schöne Beispiele zeige ich dir hier:

Animationen, die in Fraktale hineinzoomen und ihre Vielfalt und Endlosigkeit zeigen, findest du auf YouTube mit dem Suchbegriff „fractal zoom“.

Ebenso wie die Blätter sind auch wir Menschen keine getrennten Individuen, sondern Aspekte einer kollektiven Bewusstseinsstruktur, deren Komplexität die eines Baumes bei Weitem übertrifft, aber im Grunde ähnlich, also fraktal aufgebaut ist. Jede zusammengehörige Gruppe von Menschen (Paar, Freundeskreis, soziale Gruppe, Glaubensgemeinschaft, nationale Gesellschaft, Kulturkreis, Menschheit) hat bzw. ist ein Gruppenbewusstsein, das wiederum Teil eines umfassenderen Gruppenbewusstseins ist usw.

Und auch über die Menschheit hinaus geht das Spiel weiter, denn letztlich existiert nichts außer Bewusstsein, das sich auf zahllosen Ebenen selbst erfährt, indem es aus sich selbst heraus wahrnehmbare Realitäten erschafft und sich in Form mehr oder weniger individueller Aspekte seiner selbst darin „bewegt“. Auch „die Natur“ ist also ein kollektives Bewusstsein, das so groß ist, dass es das gesamte Universum mit seinen „Naturgesetzen“ erschafft und aufrechterhält.

Wenn wir nun sagen, dass „jeder seine eigene Realität gestaltet“, dann umfasst dieses „jeder“ nicht nur Individuen, sondern auch all die übergeordneten Bewusstseinsebenen. Jedes Paar, jede Gruppe und sogar der Planet, die Galaxie und das ganze Universum (sowie jede Menge nichtphysischer Intelligenzen, über die du z. B. bei Michael Roads und William Buhlman mehr lesen kannst) erschaffen jeweils einen eigenen Realitätsrahmen.

Die untergeordneten Realitäten der Teilaspekte einer jeden Instanz müssen dabei immer in deren übergeordneten Realitätsrahmen passen. Daher hat ein einzelner Bewusstseinsaspekt (etwa ein Mensch) zunächst einmal keine unbegrenzte Freiheit bei der Gestaltung seiner Realität. Oder, um beim Baum-Gleichnis zu bleiben: Jedes Blatt kann seine Realität nur im Rahmen dessen gestalten, was ihm sein Zweig vorgibt. Dieser wiederum ist an den Realitätsrahmen seines Astes gebunden usw.

Das Baum-Gleichnis hat aber auch seine Grenzen. Menschen haben nämlich zum Glück sehr viel mehr Freiheiten als Blätter. Die Menschen früherer Jahrtausende, die zumeist ihr ganzes Leben in derselben Stammes- oder Dorfgemeinschaft verbrachten und deren Regeln und Glaubenskonzepte für universelle Wahrheiten hielten, waren in ihrer Realitätsgestaltung noch fast so eingeschränkt wie Blätter, die (zumindest innerhalb eines einzelnen Lebens) niemals ihren Zweig verlassen können. Je mehr Kommunikation und Austausch sich aber zwischen den verschiedenen „Zweigen“ des „Baumes“ entwickelt, desto eher stellen einzelne „Blätter“ ihre Realitätskonzepte infrage. Das kann dann dazu führen, dass sich ein „Blatt“ plötzlich an einem anderen „Zweig“ wiederfindet, der besser zu seinem neuen Weltbild passt.

Echte Blätter können das wie gesagt nicht, wir Menschen aber sehr wohl. Vielleicht hast du es schon erlebt: Menschen wenden sich von dir ab, weil deine Überzeugungen sich verändert haben, und andere Menschen und Lebensumstände, die besser zu dir passen, treten stattdessen in dein Leben. Das passiert zwangsläufig, denn deine „Außenwelt“ ist stets ein perfekter Spiegel deiner Innenwelt. Mehr noch: In Wirklichkeit gibt es gar keine Außenwelt, denn dein Bewusstsein hat keine „Außengrenze“, sondern lediglich von dir selbst geschaffene Wahrnehmungsfilter, die dein gefühltes Ich vom universellen Bewusstsein abschirmen.Blauer Ast

Deine persönliche schöpferische Macht – deine Bewegungsfreiheit innerhalb des „Baumes“ – wird also umso größer, je weniger du dich von den Glaubenskonzepten eines Kollektivs abhängig machst. Einige wenige Menschen können sogar scheinbare „Naturgesetze“ überwinden und sogenannte Wunder vollbringen – was uns zeigt, dass diese „Gesetze“ zwar von einem sehr umfassenden Bewusstseinskollektiv geschaffen wurden (darum erscheinen sie so universell, stabil und scheinbar unverrückbar), aber dennoch nur die selbst gewählte Wahrheit eines „Astes“ und nicht die des gesamten „Baumes“ sind.

Kannst du als einzelner Mensch nun also die Realität eines anderen Menschen direkt durch dein Bewusstsein beeinflussen oder nicht? Ja und nein. Jeder Mensch, mit dem du zu tun hast, bildet zusammen mit dir ein Kollektivbewusstsein. Ihr könnt gemeinsam nur eine Realität erschaffen, die eurem gemeinsamen, kollektiven Realitätsrahmen entspricht. Würden eure individuellen Realitätsrahmen sich zu stark widersprechen, wärt ihr euch gar nicht begegnet (ihr würdet „an verschiedenen Zweigen wachsen“).

Das Zusammenwirken eurer Realitätsrahmen kann allerdings sehr unterschiedlich aussehen. Wenn ihr dank ähnlicher Überzeugungen und Bestrebungen und dank einer liebevollen Verbindung zwischen euch energetisch „an einem Strang zieht“, dann erschafft ihr gemeinsam eine Realität, die euren Wünschen entspricht. Hier multiplizieren sich eure schöpferischen Fähigkeiten gegenseitig.

Anders sieht es aus, wenn beispielsweise einer von euch sich als sehr mächtig und der andere sich (vielleicht auch nur unbewusst) als machtloses „Opfer der Umstände“ empfindet. Auch dann passen eure Realitätsrahmen zusammen, nur dass diesmal die Rollen sehr ungleich verteilt sind. Diktatoren oder auch Schwarzmagier sind Beispiele für Menschen, die solche Konstellationen bewusst oder unbewusst anstreben und ausnutzen, um andere zu beeinflussen. Eine solche Rollenverteilung ist allerdings niemals auf Dauer stabil, denn nur wer innerlich von Angst getrieben ist, sucht nach Menschen, die er unterdrücken kann. Und diese Angst wird sich früher oder später in der Realität des „Machthabers“ manifestieren, z. B. durch eine Revolution der Unterdrückten (siehe auch meinen Beitrag Chaos und Ordnung).

Kurzum: Realitätsgestaltung ist weitaus komplexer, als einige Autoren von „Wünsch dir was“-Büchern es darstellen. Wenn du deine Realität nach deinen Wünschen verändern möchtest, dann musst du in erster Linie deine Wahrnehmungsfilter, bestehend aus Glaubenssätzen, Überzeugungen, emotionalen Konditionierungen und kollektiven „Wahrheiten“, verändern und so dafür sorgen, dass du dich in denjenigen „Zweig“ des Bewusstseinsbaums bewegst, in dem der kollektive Realitätsrahmen deinen Wünschen entspricht bzw. ihre Erfüllung fördert. Denn „äußere“ (also kollektive) Realitäten erschaffst du (als Individuum) niemals allein. Aber du hast die Wahl, in welchem Team du spielen willst.

Über Jörg Starkmuth

Autor, Übersetzer und Verleger von Texten, die den Rahmen des Üblichen sprengen – mehr über mich

2 Kommentare

  1. Lieber Jörg,
    habe ich wirklich „die Wahl, in welchem Team ich spielen will“? Um Deine Metapher weiter zu bemühen: ich komme ja auch nicht als „unbeschriebenes Blatt“ auf die Welt, sondern bringe einen ganzen Sack Vorgeschichte mit, die in dieser Inkarnation weitergesponnen werden will, gemäß dem Gesetz, dass wir säen, was wir ernten – ob es uns passt oder nicht. Und dieser selbstgewählten Aufgabe kann ich ja dann nicht einfach so entkommen. Denn alles muss am Ende zusammenpassen, sonst wäre das Prinzip der Einheit in der Vielfalt (auch „Liebe“ genannt) verletzt.

    • Hallo Philip, diese Aussage ist grundsätzlich gemeint und soll zusammenfassend ausdrücken, dass wir als Individuum zwar (grundsätzlich) nicht die Möglichkeit haben, die Realität eines anderen direkt zu beeinflussen, sehr wohl aber (grundsätzlich) die Möglichkeit haben, uns als Individuum in ein anderes Kollektivbewusstsein („Team“) zu bewegen. Wie einfach oder schwierig das im Einzelfall ist, ist eine andere Frage. Natürlich bringt uns unsere Vorgeschichte erst einmal in ein Kollektiv, mit dem unsere aktuelle Energiestruktur in Resonanz steht. Aber da wir diese Energiestruktur im Laufe der Zeit verändern können, können wir damit auch unser Umfeld verändern – nicht indem wir andere Menschen manipulativ „umpolen“, sondern weil unsere Mitmenschen entweder mit unserer neuen Energie in Resonanz gehen und sich im eigenen Interesse ebenfalls in diese Richtung verändern, oder indem sie aus unserem Leben verschwinden und Platz für andere machen, die besser zu uns passen.

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